Die Bahnfahrt
Die junge Frau sitzt allein in einem Viererabteil des Abendzuges nach Bellinzona. Sie trägt ihr blondes langes Haar offen und es fällt ihr in leichten Wellen über die Schultern. Es glänzt im Licht der unter- gehenden Sonne, die langsam hinter den Bergen auf der anderen Seite des Sees verschwindet. Ein Wahnsinnspanorama, diese Berge, einfach einzigartig! Einige Gipfel sind noch schneebedeckt, es sieht aus, also ob sie ein Sahnehäubchen tragen. Doch die Frau schaut nicht aus dem Fenster, denn sie ist in ein Buch vertieft. Ein ziemlich dicker Wälzer, mindestens 400 Seiten, wie ich schätze. Scheint sehr interessant und spannend zu sein, denn die Frau hebt ihren Blick nicht von dem Buch. Das einzige was sich bewegt, sind ihre Finger, wenn sie eine Seite umblättert. Die Sonne sinkt immer tiefer und hat sich in einen roten Feuerball verwandelt. Immer wieder faszinierend, dieses Naturschauspiel, gerade hier an diesem See sind die Sonnenuntergänge besonders schön. Doch die Frau schaut immer noch nicht aus dem Fenster, denn sie hat nur Augen für ihr Buch. Wenn man sie genau betrachtet, kann man ein leichtes Lächeln um ihren Mund spielen sehen. Was ist es nur, das ihr dieses Lächeln auf das Gesicht zaubert? Auch ihre Augen leuchten, fast ein bisschen geheimnisvoll, an was sie wohl gerade denkt? Mittlerweile fährt der Zug durch Felsentunnels, Licht und Schatten wechseln sich ab. Im Zug geht automatisch das Licht an, die Frau spiegelt sich im Fenster, doch sie bemerkt es nicht. Wieder fällt ein Schatten über sie, ein zweites Spiegelbild erscheint im Fenster. Ein junger Mann fragt, ob hier noch ein Platz frei sei. Die Frau nickt mit dem Kopf ohne ihren Blick vom Buch zu heben. Der Mann, der übrigens südländisch aussieht, nimmt ihr gegenüber Platz und schaut sie irritiert an. Die Frau merkt natürlich nichts davon, gespannt folgen ihre Augen den Zeilen. Jetzt blättert sie gerade wieder eine Seite weiter, dabei flattert etwas aus dem Buch zu Boden. Doch die junge Frau scheint dies nicht bemerkt zu haben. Der Mann bückt sich, schaut unter dem Sitz nach, wo er das Buchzeichen wieder findet. Er betrachtet es genau, es ist kein richtiges Buchzeichen, sondern eher eine Visitenkarte. Aurora, das ist der Name, der auf der Karte steht. Ist die Frau, die ihm gegenüber sitzt, Aurora? Dieser Name würde gut zu ihr passen, denn für ihn sieht sie aus wie eine Fee. Ihr glänzendes Haar, ihre leuchtenden Augen, das zauberhafte Lächeln auf ihrem Gesicht! Warum spricht sie kein Wort zu ihm, ist sie vielleicht wirklich verzaubert?