Lebensfluss mit Hindernissen
Sie sitzt auf einer Bank am Fluss. Sie lässt das Rauschen des Wassers, die Stimme des Flusses auf sich einwirken. Mit dem Wasser fliesst auch ihr bisheriges Leben nochmals an ihr vorbei. Es ist geprägt von einigen steilen, hohen Wasserfällen, und viele grosse Steine mussten umflossen werden. Schon lange arbeitet sie daran, ihr Leben aufzuschreiben. Sie hofft dadurch alles noch besser verarbeiten zu können. Doch immer wieder beschleicht sie das Gefühl, nie alles überwinden zu können. Denn das, was ihr damals verwehrt blieb, wird sie niemals nachholen können.
Damals, in der 7. bis 9. Klasse, sie war 13 bis 16 jährig, durchlebte sie die Hölle. Während drei langen Jahren musste sie am eigenen Körper spüren, was Mobbing und Gewalt an der Schule bedeutet. Das schlimmste daran war nicht die körperliche Gewalt, die aus Fusstritten und Schlägen bestand, manchmal auch mittels Gegenständen. Nein, viel schlimmer waren die psychischen Verletzungen: Sie wurde von der ganzen Klasse ausgeschlossen und schlecht gemacht, auch gegenüber Schülern aus anderen Klassen. Doch keiner von ihnen konnte einen plausiblen Grund für dieses krasse Verhalten ihr gegenüber nennen. Auch ein Gespräch des Klassenlehrers mit den Haupttätern brachte kein Licht ins Dunkel. Im Gegenteil, es führte dazu, dass alles nur noch schlimmer wurde...
Am Ende dieser langen drei Jahre fand ein Klassenlager statt. Dort änderten viele ihrer Peiniger ihre Meinung und behandelten sie plötzlich supernett. Es war wohl die kurz bevorstehende Trennung der Klasse, die diese Leute dazu bewog sich zu ändern. Denen wurde wohl langsam klar, was sie ihr angetan hatten und versuchten, das wieder gut zu machen. Doch es konnte nicht mehr als ein Versuch werden, denn die Wunden, die sie ihr zugefügt hatten, waren viel zu tief, um sie schnell heilen zu können. Damals wurde ihr zum ersten Mal klar, dass den Tätern die Tragweite ihres Handelns, die Auswirkungen auf das Opfer, gar nicht bewusst waren.
Die 10. bis 13. Klasse (Gymnasium) besuchte sie an einer anderen Schule. Dort fühlte sie sich, im Vergleich zur Situation an der alten Schule, wie im Paradies. Endlich war dieser Alptraum vorbei. Endlich gehörte diese schreckliche Zeit der Vergangenheit an. Oder war es vielleicht doch nur ein Traum, indem sie sich zurzeit befand? Sie brauchte sehr lange, bis sie richtig realisierte, dass diese grausame Zeit wirklich vorbei war. Lange Zeit hatte sie das Gefühl, nur in einem Traum zu sein. Sie hatte stets Angst, plötzlich wieder in dieser schlimmen Zeit aufzuwachen. Es erschien ihr alles so unwirklich: Es war zu schön um wahr zu sein.
Der Zusammenhalt in ihrer Klasse war super und sie hatten auch zu vielen Leuten aus anderen Klassen einen guten Draht. Doch privat war sie immer noch allein, sie hatte niemanden, mit dem sie in den Ausgang hätte gehen können. In den letzten beiden Jahren hatte sie in gewissen Fächern schlechte Noten. Schliesslich wurde sie aus fadenscheinigen Gründen aus der Schule geworfen. Niemand konnte verstehen warum, alle Mitschüler/innen bedauerten es sehr, trotzdem haben danach fast alle den Kontakt mit ihr abgebrochen. Erneut war sie an einem Tiefpunkt in ihrem Leben angelangt, zumal sich auch ihre Lungenkrankheit zum ersten Mal dramatisch verschlechtert hatte. Im Laufe der nächsten vier Jahre zeigte sich mehrmals, dass sie die Ereignisse von damals trotz mehrjähriger psychologischer Behandlung immer noch nicht richtig verarbeitet hatte.
In diesen vier Jahren erlebte sie aber auch positive Momente. Nach zwei Jahren lernte sie ihre erste grosse Liebe kennen. Diese ging nach etwas mehr als einem Jahr wieder in die Brüche und nur einen Monat später verlor sie auch ihre Arbeitsstelle. Danach vergrub sie ihren Kummer ein Jahr lang im Internet, beim chatten konnte sie die schlechten Gedanken verdrängen.
Dann fand sie wieder eine Arbeitsstelle und einen Monat später ihren Traumprinzen. Die Stelle verlor sie ebenso schnell wieder wie die vorherige und ist seitdem auf Arbeitssuche. Der Traumprinz jedoch hält ihr heute noch die Treue und ist immer für sie da, auch wenn er ihre Reaktionen auf gewisse Situationen manchmal nicht richtig verstehen kann...
Auch in den letzten drei Jahren hatte sie immer mal wieder an damals gedacht. Sie fragte sich immer wieder, inwieweit den Tätern die Tragweite ihres Handelns, die Auswirkungen auf das Opfer, bewusst war. Auch fragte sie sich, ob nach so vielen Jahren überhaupt noch einer oder eine an die damaligen Ereignisse dachte und ob sie diesen in Bezug auf heute noch eine gewisse Wichtigkeit beimassen. Vor etwas mehr als einem Jahr erhielt sie an einem Klassentreffen eine Antwort auf diese Fragen. Es war ausgerechnet einer der damaligen Haupttäter der sie darauf an- sprach. Er gestand ihr, dass er immer wieder an die damaligen Ereignisse gedacht habe, und vor allem in letzter Zeit auch überlegt habe, was das für sie bedeutet hatte.
Sie war erst mal total überrascht, denn eine solche Aussprache hatte sie sich schon immer gewünscht, aber niemals für möglich gehalten. Da es für sie wichtig war, den Tätern vor Augen zu führen, wie sie damals und auch später deswegen gelitten hatte, erzählte sie ihm alles. An seiner Reaktion auf ihre Ausführungen merkte sie, dass ihm erst jetzt richtig klar wurde, was er ihr damit angetan hatte. Das alles tat ihm wahnsinnig leid, er hat sich dann mehrmals entschuldigt und sie konnte ihm verzeihen. Dieses Erlebnis war für sie sehr wichtig, doch es gibt noch eine Reihe von Leuten, die das gleiche tun sollten wie dieser Typ.
"Wenn wir fallen, stehen wir mühsam wieder auf. Und wenn wir ein zweites Mal fallen, versuchen wir wieder aufzustehen. Das Leben ist ein dorniger Bergpfad. Wir müssen aufstehen, wenn wir stolpern. Wenn wir es immer wieder versuchen, wird irgendwann eine klare, wunderschöne Quelle vor uns auftauchen. Wir müssen immer weitergehen, bis wir dieses klare Quellwasser mit eigenen Händen schöpfen können. So ist das Leben!" (Japanische Weisheit)
